The human race

Die Straße: „Bühne des Lebens.“ Shopping-Stress auf den Flaniermeilen hier, Verstoßene unserer Gesellschaft im düsteren Abgrund dort. „The human race“ kennt keine Tabus und keine Grenzen.
Paris, 2010

Straßen erzählen Geschichten – Halbnahe Begegnungen

Im Jahr 2008 lebten weltweit erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land. In den 20 größten Metropolen leben mittlerweile etwa 280 Millionen Menschen. Tendenz steigend. Die großen Städte sind Impulsgeber des gesellschaftlichen Wandels. Die urbanen Räume bilden einen eigenen Mikrokosmos. Hier kommt es zum Bau neuer Häuser und Büros, die oft in schwindelerregende Höhen reichen. Es entstehen Geschäfte, Arenen, Theater, Plätze, Brücken und letztendlich auch die Infrastruktur mit all ihren Versorgungseinrichtungen.

[Energie trifft auf Emotion – und Emotion trifft auf Energie!]

Eine Stadt ist natürlich nicht einfach nur eine Stadt, sie existiert durch die Menschen, die in ihr leben, sie prägen ihre Persönlichkeit. Ihre Straßen bilden „die Bühne des Lebens“. Hier wird eingekauft, gearbeitet, sich ausgeruht. Gespielt, gefeiert, getratscht, gelitten oder sinniert. Hier eilt man von A nach B. Zu Fuß, im (e)Auto, im Bus, in der Straßen- oder U-Bahn. Im Zug, in der Hochbahn oder dem Boot. Auf dem Fahrrad, dem (e)Bike, dem Motorrad.

Hier bewegen sich Hausfrauen, Arbeiter, mondäne Damen aus den Büros, Banker und Broker, Geschäftsleute. Junge und alte Menschen, Kinder, Arme und Reiche. Die Straße gibt Einblick in Lebensverhältnisse, den Alltag in der Stadt. Hier findet Interaktion statt.

Legendäre Fotografen haben das „Straßenleben“ festgehalten und das fotografische Genre „Streetlife“ begründet. Dabei ist es beileibe kein Naturgesetz, dass ein Schnappschuss keine großartige Aura oder Atmosphäre wie z.B. bei einer inszenierten Aufnahme haben kann. Im Gegenteil: Bilder „im Vorübergehen“,  flüchtige Augenblicke, haben oft diese Magie des Einmaligen, des Unwiederbringlichen. Und sie spiegeln diesen eigentümlichen Charakter jeder Fotografie besonders gut wider, ein kurzes Stück aus dem großen Zeitenstrom „herausschneiden“ zu können.   

[… ändere die Worte und du änderst die Vision…!]

An dieser Stelle erinnere ich mich an Humboldt, der der Meinung war, dass wir mehr wahrnehmen, als unser Auge sieht. Mein Blick auf diesen Mikrokosmos ist Ausgangspunkt einer komplexen künstlerischen Reflexion. Die Motive erfahren durch die fotografische Auseinandersetzung ihre Transformation, sie werden zum Bild. Ein Bild das nicht nur eine Situation „abbildet“, wie sie ist, sondern wie nur ich sie, als Fotograf, erfühlt und gesehen habe, nur in diesem kleinen, kurzen Augenblick. Eine Sicht, die oft den zweiten Blick erfordert, denn sie weist, bei aller Faktizität, über die fotografische Sekunde hinaus. Sie schafft eine Ambivalenz zwischen dem direkten Sehen und dem Verborgenen. Sie zeigt im Banalen, Ephemeren und scheinbar Bedeutungslosen und Gewöhnlichen das Besondere. Dynamische Ästhetik.

Es ist kein intellektueller, sondern ein intuitiver Prozess; Bauch statt Kopf eben. Immer „im Augenblick sein“- hellwach und beweglich. Spontane visuelle Entscheidungen treffen, getrieben von Wahrnehmung, starkem Instinkt für das Visuelle und Erfahrung. Die Inspiration präsentiert sich nicht zwingend systematisch. Der Erfolg hängt an der Leidenschaft, der Begeisterung und dem Ehrgeiz.

Ist es Journalismus oder eher das Gegenteil, dem das Auge die Schönheit des Profanen öffnet? Natürlich oszilliert mein Blick zwischen dokumentarischem Interesse und subjektiver Wahrnehmung. Nein, es ist keine Chronistenpflicht, eher die Reflexion auf Zeit und Ort und die Projektion persönlicher Befindlichkeiten. Denn nur hierdurch gewinnt es eine zusätzliche Aussageebene jenseits der reinen Dokumentation. Mal kompositorisch-stilistisch streng geordnet, dann bewusst körnig und verschwommen. Gekippte Ansichten wechseln zu gewagten, peripheren Perspektiven und verzerrten Spiegelungen. Fragmentarisches gewinnt plötzlich an Bedeutung. Auf der Straße zu fotografieren ist chaotisch, unvorhersehbar, immer anders. Man braucht die Gabe, diesen „decisive moment“ festzuhalten; auch diesen einen Aspekt eines Menschen zu erkennen, den der durchschnittliche Beobachter vielleicht nicht wahrnimmt.

[… für mich ist es immer wieder spannend zu bemerken wie die Neuheit des „touristischen“ der Essenz des Ortes weicht…!]

Straßenfotografie ist vor allem eine Fotografie der Stadt mit all ihren Facetten. Keine topografische Annäherung aus einem distanzierten Blickwinkel heraus. Sie konzentriert sich weniger auf panoramaartige, unbelebte Ansichten von Straßenzügen oder Skylines und interessiert sich selten für Gebäude im Verhältnis zu ihrer Umgebung, für ihre Größe oder Höhe. Die Straßenfotografie agiert auf Augenhöhe, auf Straßenniveau. Sie widmet sich Situationen und Menschen. Aber auch zu deren Verhältnis zur Semantik. Sie ist kein Projekt, sondern ein immerwährender Prozess. Eine fotografische Disziplin, die, wie John Szarkowski es ausdrückt, Intelligenz und Scharfsinnigkeit in großem Umfang erfordert.

Die Straße ist für mich ein mythischer Ort. An guten Tagen schenkt sie mir ein besonderes Licht. Diffuses, wärmendes am Morgen und Abend, lange harte Schatten am Mittag. Flirrendes an heißen Tagen. Regen bringt sie zum  Glänzen, malt ein herrlich reflektierendes Bokeh. Sie ist aber immer Begegnungsstätte mit Menschen. Oft sind es nur flüchtige Blicke, und dennoch meine ich darin eine große Portion Empathie zu entdecken. Und das ist der Kern: die Nähe. Denn wer sehen will, muss fähig sein, die Begegnung zu wagen. Es reicht nicht, an einem bestimmten oder fernen Ort zu sein, irgendwo auf der Welt. Begegnung heißt partizipieren. Das erfordert Einfühlungsvermögen, aber auch Cleverness und Schnelligkeit. Wer bequem ist, hat keine zweite Chance. Die Straßenfotografie ist durchaus auch eine physische Herausforderung. Um Erlaubnis fragen ist keine Option, die Authentizität des Moments ginge verloren. Höflichkeit, Einfühlungsvermögen und Respekt sind Grundvoraussetzungen.  

Ursprünglich wurde die sogenannte „Straßenfotografie“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Jean Eugène Auguste Atget in Paris „erfunden“. Sie brachte berühmte Fotografen hervor, wie z.B. Henri Cartier-Bresson, André Kertész, Helen Levitt, Elliott Erwitt, Martin Parr, Vivian Maier, Lee Friedlander, Joel Meyerowitz, Saul Leiter, Bruce Gilden, Axel Webb und Garry Winogrand und natürlich Robert Frank oder Weegee. Um nur einige zu nennen.

Dann geriet die „Straßenfotografie“ irgendwie in Vergessenheit. Heute erlebt sie eine Renaissance, eine neue Blütezeit: Publikationen saugen sie auf, Festivals beschäftigen sich eigens nur mit diesem Thema; und sie hält triumphalen Einzug in Ausstellungen. Freilich, sie birgt rechtliche Fallstricke, gerade in unseren bewegten Zeiten wo Smartphones alles festhalten und über Social Media in die digitale Welt schicken: „Überwachungen jeglicher Couleur“ also.

[… diese Art der Fotografie ohne emotionale Bindung zu betreiben ist unmöglich – ich muss die Straße spüren…!]

Ich war mir unsicher wie ich diese Kategorie benennen wollte. Denn „Streetlife“  - was es doch ist, war mir zu „oberflächlich” zu allgemein, vielleicht ein Stück weit “bedeutungslos.“ „On very Road“ trifft es auch. „The daily soap“ ebenso und natürlich “Inside Urban” genauso.
Aber ich nenne sie: “The human race.”
Die Bezeichnung hat tatsächlich etwas mit Paul Hough's Film „The Human Race – The „Race or Die“ zu tun – aber natürlich nur im übertragenen Sinne. Denn der Hollywood-Streifen aus dem Jahre 2014 gehört zu den Genres Action, Horror, Sci-Fi.

Wir laufen und rennen tagtäglich, oft, wie „um unser Leben.“ Hetze, Termindruck, Geschäfte machen um jeden Preis. Rote Ampeln, Staus, keine Parklücke. Shopping-Stress in einer glitzernden Welt hier, dort Verstoßene unser Gesellschaft im düsteren Abgrund. Das zeigen viele Fotos. Aber auch spielende Kinder, ruhige Momente; sie lassen hoffen. Es sind Bilder von allen Kontinenten und verschiedenen Kulturen und ihren Lebensweisen in einem langen Zeitstrahl. Und sie zeigen auch die Zeitenwende zum 21. Jahrhundert, hin zum Cyberspace!