Written by: Rudolf Uhrig

Indigenous people „to go“

Ich kenne ihre Namen nicht, nicht ihr Alter. Nicht woher sie kamen oder wohin sie gingen. Die Zeit und das Schicksal hatte uns zusammengeführt, damals.
Uttar Pradesh, Indien, 1992

Faces from different places

Wenn ich früher in Städten oder Ländern unterwegs war, so galt mein fotografisches Interesse der Architektur, Kirchen und Denkmälern, den „allgemein definierten Sehenswürdigkeiten“, all dem „ was man eben da und dort gesehen (und fotografiert) haben muss.“ Oft wartete ich bis ich das Objekt der Begierde für mich - und meine Kamera - alleine hatte: Menschen waren Störfaktoren. Dann entdeckte ich Marokkaner, Inder, Thailänder, Venezolaner…, unheimlich interessante Menschen und Gesichter, andersartig und fremd. Die „Faszination Mensch“ erweiterte mein fotografisches Spektrum.

Streiten wir uns nicht über die Porträtarten, Stilrichtungen und Strömungen. Ob nun American knee shot, American shot und der medium shot, also, Viertel-, Halb- oder Dreiviertelporträts, oder nur die „35mm-Frontalansichten“, die „wahren Porträts“ sind. Also jene Aufnahmen, die den Porträtierten auch und gerade im räumlichen Kontext seines Umfeldes zeigen. Oder aber die „Close ups“ oder deren „(Über-)Steigerungsform“, die „big Close ups“, die nur noch Ausschnitte, gar „Fragmente“ zeigen.
Wenn man Menschen fotografiert, muss man stets aufmerksam sein. Man weiß nie, was im nächsten Moment passiert. Und dann weckt etwas an der Szene mein Interesse. Vielleicht ist es die Natürlichkeit, schöne Haare, die Frisur generell, Accessoires, die Kopfbedeckung, markante Gesichtszüge, Sommersprossen, große Ohren, lange Hälse, schöne Lippenform, interessante Augen, Muskeln, ein sanftes oder gar „freches“ Lächeln, tiefe Furchen, die das Leben hinterließ… Symmetrie, Formen, Farben, das Licht und die Schatten. Dabei lege ich ganz intuitiv fest, was eben für mich in diesem Moment „schön“ und „interessant“ ist. Es kann die ganze Szenerie sein, oder eben nur ein enger Ausschnitt des Gesichts. 
Und auch da kommt für mich Robert Capa ins Spiel, einer der größten Reportage-Fotografen den die Welt gesehen hat. „Wenn deine Bilder nicht gut genug sind – dann bist du nicht nah genug dran“, so sein Credo. Dabei muss man wissen, dass zu seiner Zeit, in den 1930er bis 1950er Jahren, die Kameras fast ausschließlich mit Festbrennweiten ausgerüstet waren, üblicherweise sogar im leichten Weitwinkelbereich.
Situationen schnell erfassen, sie einzuschätzen und  im richtigen Augenblick gut zu stehen, wissen, worauf es ankommt, das gilt auch für die Porträtfotografie auf der Straße.
Die Stichworte in diesem Kontext sind Empathie und Nähe.

[Berührende Momente]

Ungefragte, „gejagte, abgeschossene, geklaute“ Momente mit Teleobjektiv, und damit vorgetäuschte Nähe und Intimität sind für den Betrachter spürbar und für den Porträtierten zutiefst verletzlich. Man kann ein schönes Bild machen – grafisch interessant, gut ausgeleuchtet, perfekt gestaltet – aber wenn die menschliche Nähe, die Verbindung fehlt, wird es keine Resonanz hervorrufen, es wird leer sein. Viele Fotografen sind der Auffassung, dass man verbal kommunizieren muss um etwas über den Menschen in Erfahrung zu bringen, seine Geschichte kennt bzw. kennenlernt. Gar einen kurzen Blick in seine Seele erhält. Nur dann ist ein Porträt gelungen, erst dann löse es beim Betrachter Emotionen aus. Erst dann behandle man sein Gegenüber nicht nur als pittoreskes Fotoobjekt sondern als gleichberichtigen Partner. Der „Zoocharakter“ werde hierdurch aufgehoben. 
Um es klar und deutlich zu sagen, für mich ist mein Gegenüber immer ein gleichberechtigter Partner, Würde und respektvoller Umgang sind für mich unabdingbare Werte. Sie zeichnen uns als Menschen gegenüber jedem anderen Lebewesen aus. Das gilt hier in Mitteleuropa genauso wie am anderen Ende der Welt! Hinzu kommen Sensibilität und Achtung gegenüber Gefühlen, lokalen Gebräuchen und Religiosität. 
Für mich sind es keine Indigenous people „to go“, keine Abwertung oder Ausnutzung der Fremde oder gar die Projektion eigener Wahrnehmungsmuster mit neokolonialistischen Zügen. Es geht mir auch nicht um Fremdheitsbilder indigener Kulturen angetrieben durch ein visuelles Verlangen nach der Wiederholung des Paradieses, oder nur um einen memoralen Aspekt. Es ist für mich höchstes ästhetisches Empfinden für den Menschen und  – ja – dessen exotische Fremde.

[Skulpturale Präsenz. Gesichter wie Landschaften]

Das menschliche Gesicht ist für mich dabei das kraftvollste fotografische Element. Es verändert sich in Bruchteilen von Sekunden. Augen erzählen Geschichten, ebenso kleine Bewegungen des Mundes oder der Braue. Ein Gesicht ist für mich emotionalisierend und identifikationsstiftend. Man muss sich ganz einbringen und beteiligt sein, um den Moment zu erkennen und ihn festzuhalten. Die Literaten nennen es „Spiegel der Seele“, die Philosophen „Seele des Körpers“ und die Journalisten charakterisieren es gerne mit dem Begriff: „Lesebuch des Lebens.“
Die Bilder dieser Menschen sind in Alben, Ordnern, Archiven, auf Festplatten oder Diakästen verschwunden. Die Jahre, viele Jahre, gingen – ungeachtet der physikalischen Einwirkungen – spurlos vorbei. Dann fragt man sich, was ist aus diesem Kind, dem Jungen, dem Mädchen, dem Mann, der Frau, geworden?
Heute wie damals blicke ich auf einen Unbekannten, den ich nie habe reden oder lachen hören. Ich kenne seinen Namen nicht, nicht sein Alter. Nicht woher er kam oder wohin er ging. Die Zeit und das Schicksal hatten uns zusammengeführt, damals. Wir sahen uns in die Augen, vielleicht unterhielten wir uns, auch mit Blicken und Gesten…!? Jetzt stelle ich mir die Frage: „Wie bin ich in diese magische Welt geraten“? Fast sind es alchimistische Augenblicke,  erfüllt von melancholischer Neugierde. 
Eines weiß ich aber, selbst wenn ich ihre Seele berührt habe, so haben sie dennoch ihr Geheimnis bewahrt.